Einzelstrecken-WM 2007, WM-Tagebuch 4/5
WM-Tagebuch, Teil 4 von 5 — Sonnabend (10. März 2007)
Von Matthias Opatz
Schnellste Weltmeisterin aller Zeiten: Jenny Wolf (links bei ihrem Rekordlauf mit Wang Beixing ausgangs der Zielkurve, rechts jubelnd).
Mit “The Fastest Ice On Earth”, dem schnellsten Eis der Welt, werben die Gastgeber für ihre Bahn – am Sonnabend wurde die Bahn ihrem Anspruch gerecht. Während der unermüdliche Sven Kramer fast schon Weltrekorde auf Bestellung läuft (oder weglässt, wie in Calgary), war ein anderer Rekord fast schon eine Sensation: Mit 37,04 Sekunden über 500 Meter und 74,42 Sekunden über 2×500 Meter löschte die Berlinerin Jenny Wolf die ältesten bestehenden Weltrekorde (Catriona LeMay-Doan, 2001) aus und holte den ersten Weltmeistertitel für die DESG bei diesen Titelkämpfen und den ersten seit vier Jahren auf dieser Strecke. 2003 war Monique Garbrecht-Enfeldt in Berlin 500-m-Weltmeisterin geworden – und gehörte 2007 zu den ersten Gratulanten für die neue schnellste Frau der Welt.
Schon nach dem ersten von zwei 500-m-Läufen jubelte Wolf über die persönliche Bestzeit von 37,38 Sekunden (bisher 37,71), doch da war Geburtstagskind Wang Beixing (die Chinesin wurde 22 Jahre) noch 14 Hundertstel schneller gewesen. Im zweiten Lauf trafen die beiden dann im letzten Paar unmittelbar aufeinander. “Ich habe wirklich einen technisch perfekten Lauf hingelegt”, meinte Wolf, “das letzte Mal hatte ich in der Zielkurve gesehen, wie groß mein Vorsprung ist, und dann bin ich nur noch durchgelaufen. Man kann den Abstand der Konkurrentin dann nicht mehr orten, durch das Klappern der Schlittschuhe denkt man eigentlich immer, sie ist direkt hinter einem. Im Ziel habe ich dann gespürt, dass es für den Titel reicht – aber an einen Weltrekord habe ich in dem Moment überhaupt nicht gedacht. Als ich das gesehen habe, war ich total baff. Ich bin jetzt noch sprachlos.”
Ziemlich überrascht war auch Wolfs Heimtrainer Thomas Schubert, der unmittelbar nach Wolfs Rekordlauf von Damen-Bundestrainer Markus Eicher angerufen worden war. “Ich habe das Rennen zwar via Internet verfolgt, aber der Anruf war schneller, ich hab mich natürlich riesig gefreut”, sagte Schubert, “in dieser Saison hatte sich bei Jenny einiges angedeutet, aber das einfach alles so aufgeht, habe ich nicht zu träumen gewagt. Jetzt müssen auch in Berlin ein paar Flaschen Sekt dran glauben.”
Silber und Bronze gingen an Wang Beixing (China) und Sayuri Osuga (Japan), die Erfurterinnen Judith Hesse und Pamela Zoellner belegten die Plätze 14 und 15. “Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll”, meinte Judith Hesse, “einerseits habe ich zwei Läufe nahe an meiner Bestzeit hingelegt, aber eben nicht schnell genug für die Topten, und die sind mein Anspruch.”
Auch Samuel Schwarz (Berlin) wäre über 1000 Meter gern in die Topten gelaufen, doch er wurde beim Sieg von Shani Davis (USA/1:07,28) vor Denny Morrison (Kanada) und Lee Kyou-Hyuk (Südkorea) in 1:09,08 min nur 17. “Unter normalen Umständen hätte ich das bestimmt geschafft, aber ich hatte drei Tage lang Fieber und fünf Tage Trainingsausfall, da bin ich froh, dass ich überhaupt an den Start gehen konnte, denn der WM-Start war mein großes Saisonziel.”
Dafür gelang das Ziel, unter die besten zehn zu laufen und damit eine Norm für die Einstufung als A-Kader zu erfüllen, über 10”000 m der Männer gleich zwei Deutschen. Robert Lehmann (Erfurt) verbesserte seine 10-km-Bestleistung gleich um fast 20 Sekunden auf 13:22,33 min – das bedeutete am Ende Platz neun. Und Marco Weber (Chemnitz) lieferte sich ein packendes Duell mit dem 5000-m-Weltmeister von Inzell, Chad Hedrick (USA). Weber kam auf 3:21,83 min (10 s unter Bestzeit) und insgesamt Platz acht. In einer anderen Liga lief wieder einmal der Niederländer Sven Kramer, der wie ein Uhrwerk und scheinbar mühelos lief und am Ende in 12:41,69 seinen erst vier Wochen alten Weltrekord um über acht Sekunden verbesserte. Damit hätte er mit Ausnahme seiner beiden Landsleute auf den Medaillenplätzen, Carl Verheijen und Brigt Rykkje, jeden anderen Läufer im Feld überrundet.
Im mit Spannung erwartetet 6-Runden-Mannschaftsrennen der Damen kam es zum erwarteten Vierkampf zwischen Russland, Kanada, Deutschland und den Niederlanden. Im vorletzten Paar lieferte Deutschland mit Lucille Opitz, Claudia Pechstein, Daniela Anschütz-Thoms (im Bild von links; Foto: Manfred Appelt) den Kanadierinnen (Groves, Nesbitt, Rempel) ein großes Rennen, lag aber bei jeder Zwischenzeit wenige Zehntel hinter dem Konkurrenten. Auf der Schlussrunde wollte die abschließend führende Pechstein ihre Kameradinnen zum Sieg ziehen und lief auch tatsächlich vor den Kanadierinnen über die jeweilige Ziellinie – indessen war aber hinter ihr ein Loch gerissen, und bei den maßgeblichen Zeiten der Dritten lag Kanada eine gute Sekunde vorn: Kanada 2:58,15; Deutschland 2:59,38.
Im letzten Paar hing auch noch die deutsche Medaille am seidenen Faden, denn de Russinnen boten den Niederländern lange Paroli und lagen nahe an den deutschen Zwischenzeiten – doch nur für die Niederländerinnen (Wüst, Groenwold, van Deutekom), die in 2:59,18 ganze zwei Zehntel schneller waren als Deutschland, reichte es noch zu einer Medaille – aber die kanadische Zeit blieb die Nummer eins im Klassement. Ganz bitter der vierte Platz für die Russinnen: Sie hatten alle Starts über 1500 und 3000 Meter sausen lassen, um sich für das Mannschaftsrennen zu schonen, denn an einer möglichen Medaille hing maßgeblich die Förderung bis Olympia 2010.
Lucille Opitz, die in der letzten halbe Runde zu Claudia Pechstein abreißen lassen musste, sagte: “Ich hatte blaue Hände, das Gesicht wie taub, ich habe keine Luft mehr bekommen und die Beine wollten nicht mehr. So hat noch nie ein Rennen wehgetan.” Claudia Pechstein wollte aber von Schuldzuweisungen nichts wissen. “Lucy war diese Woche angeschlagen, und trotzdem haben wir eine Medaille. Bronze ist besser als Holz. Wir sind eine Mansnchaft, wir gewinnen zusammen, wir holen zusammen Bronze, und wenn”s sein muss, verlieren wir auch zusammen – wir hätten ja ebenso gut leer ausgehen können.” Frauen-Coach Eicher war ebenfalls “heilfroh, dass die Medaille im Kasten ist, denn vor dem Rennen stand alles auf der Kippe. Daniela Anschütz hat sich beim Einlaufen irgendwie den Hals verdreht, wir dachten schon, dass sie gar nicht laufen kann.” Und Ersatzläuferin Katrin Mattscherodt, die sch mit warmgelaufen hatte, bekannte: “Als das passiert ist, aber ich erstmal einen Riesenschreck bekommen. Natürlich muss man immer bereits sein, einzuspringen, aber die anderen drei sind nun mal noch besser als ich, da war es so schon besser.” Angesichts eines Pressegesprächs mit ein paar Husteneinlagen nach dem schweren Rennen meinte Claudia Pechstein beim Abgang augenzwinkernd: “Wir müssen jetzt zum Abhusten ins Altersheim” – letzteres eine Anspieleung auf Pressestimmen, die den deutschen Assen aus Altersgründen keine Topleistung mehr zutrauen. Doch gerade der Antritt Pechsteins auf der letzten Runde deutete an, dass man sie auch am Sonntag über 5000 Meter auf der Medaillen-Rechnung haben sollte.
Auch am letzten WM-Tag stehen noch einmal vier Entscheidungen auf dem Programm. Die deutschen und ausgewählte weitere Ansetzungen. 1000 m Damen: [3] Kajkan (RUS) – Zoellner, [5] Shinya – Hesse, [9] Wüst (NED) -Groves (CAN), [10] Nesbitt (CAN) – Yoshii (JPN), [11] Gerritsen (NED) – Friesinger, [12] Rempel (CAN) – Simionato (ITA). 1500 m Herren: [5] Schwarz – Gao (CHN), [8] Heythausen – Roberge (CAN), [11] Davis (USA)- Morrison (CAN), [12] Fabris (ITA) – Wennemars (NED). 5000 m Damen: [4] Mattscherodt – Haugli (NOR), [7] Pechstein – Sablikova (CZE), [12] Groenwold – Anschütz-Thoms. Mannschaft Herren: [1] USA – Russland , [2] Schweden – Japan, [3] Kanada – Deutschland (Heythausen, Lehmann, Schneider, Weber – genaue Nominierung vor Start), [4] Niederlande – Italien.
Anni Friesinger, die nach einem fiebrigen Infekt beim Calgary-Weltcp und mehreren Tagen Traininsausfall auf ihren WM-Start über 1500 m verzichtet hatte, hat am Sonnabend endgültig entschieden, dass sie die 1000 Meter am Sonntag in Angriff nehmen will. Am Morgen vor den WM-Rennen war sie zum Training auf dem Eis. “Es ging wieder ganz gut”, sagte sie, “allerdings war das Eis nicht ganz sauber, ich hab mr ein wenig den Schliff verdorben. Aber das kriege ich schon wieder hin.” Den WM-Nachmittag hat sie nicht live im Oval verfolgt. “Ich will noch schleifen, dazu Wettkampfvorbereitung. Zudem verliere ich, wenn ich hier auf der Tribüne hocke, die nötige Anspannung vor dem Wettkampf. Ich drücke unserem Team, Jenny Wolf und den anderen Starten aber trotzdem ganz doll die Daumen.” Was am Sonntag über 1000 m möglich ist, vermochte Friesinger nicht zu sagen. “Natürlich werde ich um eine Medaille kämpfen, aber unter den Vorzeichen bin ich keine Favoritin. Ich hatte meinen Saisonhöhepunkt mit der Sprint-WM, und ich habe schon immer gesagt, alles was dann noch kommt, ist das Zuckerl, die Zugabe.”
Am Rande der Weltmeisterschaften wurden von Beobachtern die Norweger als bisher größte Enttäuschung der WM gehandelt. Nach fünf Medaillen bei den vorigen Einzelstrecken-Weltmeisterschaften in Inzell (2x Gold, 3x Bronze) und fünf Top-3-Ergebnissen im Weltcup stehen die Schützlinge von Trainer Peter Mueller (selbst 1000-m-Olympiasieger 1976) bislang mit leeren Händen da – woran sich am Sonntag aller Voraussicht nach nicht ändert. Dabei hatten sie sogar auf den Weltcup in Erfurt verzichtet (was sie mit der Nichteilnahme im Mannschaftsrennen bezahlen mussten), um in 2000 m Höhe nahe Salt Lake City Quartier zu nehmen und schon auf dem Eis von Kearns zu trainieren. Zudem hatte Peter Mueller am Freitag für einen Eklat gesorgt. Während des 3000-m-Rennens von Mari Hemmer hatte sich Mueller (der sich trotz erfüllter Qualifikation gegen einen WM-Start Hemmers ausgesprochen hatte) demonstrativ auf der Tribüne schlafen gelegt. Nachdem diese Bilder im Fernsehen gezeigt worden waren, bläst dem US-Amerikaner in Norwegen ein noch kühlerer Wind entgegen. Mueller steht beim norwegischen Verband bis 2010 unter Vertrag.
DESG-Teamleiter Helge Jasch musste am Rande der WM einige Klagen von Mannschaftsmitgliedern über die teilweise nicht zufriedenstellende Verpflegung im offiziellen Athletenhotel entgegennehmen. “Es ist nicht immer optimal, aber gegenüber früheren Aufenthalten hier ist es schon deutlich besser geworden”, meinte Jasch. In den USA sei es ohnehin manchmal schwierig und er erinnerte sich an einen Wettkampf in Roseville, wo es Lunchpakete gab, die im wesentlichen Chips und Bier enthielten. In einem Fall haben die deutschen Sportler in Salt Lake City schon zur Selbsthilfe gegriffen: Das luftige Weißbrot ersetzen sie durch festes, dunkles Brot – “deutsches Brot”. Das haben sie aber nicht etwa aus der Heimat mitgebracht (dies dürfte nach fast drei Wochen auch nicht mehr ganz frisch sein), sondern von einem deutschstämmigen Bäcker, der nur fünf Gehminuten vom Hotel seinen Laden hat.