Crimmitschauer Urgestein im Gespräch
Eine DDR-Meisterschaft, die letztlich gar nicht stattfand, sollte für den kleinen sächsischen Ort Crimmitschau große Bedeutung erlangen. Die besten Berliner Eisschnellläufer um Trainer Helmut Haase absolvierten im Januar 1952 ein achttägiges Trainingslager auf dem Hofteich in Crimmitschau-Frankenhausen. Einige heimische Leichtathleten ließen sich bei dieser Gelegenheit in die Geheimnisse des Schnelllaufens einweihen. Unter ihnen war der 17jährige Heinz Wolfram. Mit dem späteren Olympiateilnehmer sprach desg.de.
Herr Wolfram, welche Erinnerung haben Sie noch an die damaligen Ereignisse?
Für die erste DDR-Meisterschaft war auf dem Hofteich eine 333m-Doppelbahn präpariert worden. Unmittelbar vor dem Wettkampftermin setzte jedoch ein Föhn ein, der die Meisterschaft platzen ließ. Infolge des Trainingslager der Berliner gründete der Crimmitschauer Paul Schneider mit Unterstützung von Helmut Haase den ersten Eisschnelllauf-Verein in Crimmitschau. Ich war von Anfang an dabei und bin es als Mitglied des Crimmitschauer Eislauf Verein auch noch heute. Ein Jahr später fanden in Geising dann tatsächlich die ersten DDR-Meisterschaften statt. Im Rahmen der Meisterschaften waren im so genannten Neulingslaufen bereits zehn Crimmitschauer am Start. Brigitte Schramm siegte bei den Damen und ich bei den Herren.
Die Art der Eispflege wird mir auch immer in Erinnerung bleiben. Eine Person zog den Schlitten auf dem ein Fass stand, begleitet wurde er von vier weiteren Personen, die das Wasser nachschütteten. An dem Fass hing unten ein Rohr, in das Löcher gebohrt waren, mit Wischlappen dran. Das Wasser für die Eispflege mussten wir aus einem Loch im Eis schöpfen.
Welche Erfahrungen hatten Sie bis 1952 auf dem Eis?
Mein Vater hatte mir während eines Fronturlaubs Schlittschuhe geschenkt, die er aus Rumänien mitgebracht hatte. Mit denen bin ich als Kind in Schlesien aus Spaß gelaufen. In Crimmitschau haben die Kinder und Jugendlichen gern Eishockey gespielt, dazu bot sich neben dem Hofteich auch die Eisfläche im Sahnpark an. Mit dem ernsthaften Training habe ich tatsächlich erst mit 17 Jahren begonnen.
Wie ging es in Crimmitschau weiter?
In Berlin wurde der Aufbau eines professionellen Eisschnelllaufens vorangetrieben. Dazu gehörte auch, dass die besten Läufer regelmäßig mit den neuesten Schlittschuhen z.B. aus Norwegen ausgerüstet wurden. Die Vorgängerversion landete dann in Crimmitschau, so dass die meisten Läufer mit akzeptablem Material unterwegs waren. Crimmitschau liegt im Vorerzgebirge und ist dadurch einigermaßen frostsicher. So standen für das Training die Eisflächen im Sahnpark und auf dem Hofteich zur Verfügung. Es machte sehr viel Spaß auf dem heimischen Hofteich oder auch in Berlin in der Seelenbinder-Halle bei den Teamrennen zu starten. Diese fanden in den Drittelpausen der Eishockeyspiele vor vielen tausenden Zuschauern statt, das war einerseits Werbung für unseren Sport, andererseits jedes Mal ein tolles Erlebnis.
Im Sommer wurde damals hauptsächlich Leichtathletik betrieben. Wir waren ja ursprünglich eine Leichtathletikabteilung und starteten auch weiterhin bei Wettkämpfen. Radtraining wie es heute Standard ist, gab es damals noch nicht. Bereits 1956 gehörten einige Crimmitschauer zur Nationalmannschaft. Ich selbst habe 1956 nur knapp die Qualifikation zu den Olympischen Spielen verpasst. Während Helmut Kuhnert zwei Top-Ten Plätze auf dem Lagua Misurina erzielte, waren wir bei Wettkämpfen im polnischen Zakopane und dem tschechischen Svratka aktiv.
Die konsequente Förderung des Leistungssportes in der DDR lief in den 50er Jahren gerade an, wie wurden Sie unterstützt?
Ich arbeitete seit 1954 als Schlosser und Schleifer in einer Erzwäsche der Wismut in Karl-Marx-Stadt. Im Sommer wurde ich an zwei Tagen der Woche für das Training freigestellt. Im Winter wurden wir für Trainingslager zum Teil sogar einige Wochen von der Arbeit befreit. Auch mein Trainingspartner Harald Norden war bei der Wismut beschäftigt.
Zudem wurde nach den ersten Erfolgen der Crimmitschauer Läufer nun auch ein hauptamtlicher Trainer eingestellt. Manfred Hösel, der zu den ersten Läufern des Vereins gehörte, absolvierte eine Trainerausbildung in Leipzig und begann seine Tätigkeit nach der Olympiasaison 1956.
Mal Hand aufs Herz, Sie lebten in einer kleinen Stadt in der gewiss nicht reichen DDR. Haben Sie bei ihren Wettkämpfen in Davos, Kiruna oder Squaw Valley nie daran gedacht der DDR den Rücken zu kehren?
Nein, daran habe ich nie gedacht. Es gab in den 50er Jahren auch gar nicht den großen Kulturschock. Natürlich gab es in den schwedischen Läden mehr zu kaufen, aber die Unterschiede waren damals noch nicht so groß wie 10 Jahre später. Zudem hatte ich mir ein Haus gekauft und eine Frau zu Hause. Meine jüngere Schwester Irmgard hatte die DDR 1956 verlassen, wir sind aber in Kontakt geblieben, was für meine Karriere sicherlich nicht förderlich war.
Wie ging es sportlich weiter?
Mein bestes Jahr war rückblickend gesehen 1957. Vor den Weltmeisterschaften stellte ich im schwedischen Östersund eine neue 5000 Meter Bestzeit auf. Diese konnte ich bei der WM an gleicher Stelle noch einmal bestätigen. Zum dritten Platz fehlten über 5000 Meter nur 16 Sekunden, so dicht kam ich nie wieder an die Weltspitze heran. Zugleich war dies die erste Teilnahme eines Crimmitschauers an einem internationalen Titelkampf, und das nur fünf Jahre nach Gründung des Vereins. Im nachfolgenden Jahr war ich lange verletzt, aber zum Ende der Saison konnte ich meine Vizemeistertitel in Geising trotzdem verteidigen. Bei den sowjetischen Allunionsmeisterschaften 1959 in Gorki lief ich bei Minus 22 Grad Celsius ein starkes 10000 Meter Rennen und durfte anschließend in Medeo und bei den Weltmeisterschaften in Oslo starten. Trainiert haben wir mittlerweile viel in Mittelschweden.
Das Jahr 1960 gilt als Geburtsstunde der späteren Erfolge der DDR Eisschnellläufer. Wie haben Sie dieses Jahr erlebt?
In der Tat war es ein besonderes Jahr. Wir haben von Oktober bis Mitte Dezember im schwedischen Kiruna trainiert und auch einige Wettkämpfe bestritten. Danach ging es über Weihnachten nach Hause und ab dem 28.Dezember nach Davos. Dort trainierten wir bis Anfang Februar. Zwischendurch fanden die Ausscheidungsrennen zwischen den Läufern der DDR und der BRD für die gesamtdeutsche Mannschaft für die Olympiade statt. Diese Ausscheidungen hatten eine politische Brisanz, da der Missionsleiter für Olympia durch die zahlenmäßig stärkere Mannschaft gestellt wurde. Aus Crimmitschau konnten sich mit Gisela Toews, Harald Norden und mir gleich drei Sportler qualifizieren.
Helga Haase stellte überraschend einen Weltrekord im Vierkampf auf, der allerdings kurze Zeit später durch die russischen Läuferinnen pulverisiert wurde. Zum Ende der Trainingsperiode fanden dann die Mehrkampfweltmeisterschaften in Davos statt. Helmut Kuhnert, der bereits seit einiger Zeit zur Weltspitze gehörte, sicherte sich die Bronzemedaille. Wir hätten eigentlich mit breiter Brust nach Squaw Valley gehen können.
Warum eigentlich?
Im Nachhinein muss man sagen, dass wir damals falsch trainiert haben. Unsere Trainer hatten ja noch keine große Erfahrung. Ich merkte wie meine Form immer schlechter wurde, ich konnte selbst auf der schnellen Bahn in Davos meine Bestzeiten nicht erreichen. Das führte bei mir persönlich zu einer gewissen Demotivation, so dass ich schon fast so weit war Olympia abzusagen. Helmut Haase musste lange auf mich einreden und mir die einmalige Chance vor Augen halten.
Das nächste Problem war die lange Anreise. Wir sind von Berlin nach Stockholm geflogen, von dort nach Winnipeg, allerdings mit einem Zwischenstopp in Grönland. Von Winnipeg sind wir dann nach Reno und von dort schließlich mit dem Bus nach Squaw Valley. In Amerika standen wir ohne Trainer da, da keiner unserer Coaches eine Einreisegenehmigung erhielt. Wir haben vor Ort auch nicht mehr richtig trainiert, es fehlte noch an Erfahrung. Unsere Ergebnisse bei den Olympischen Spielen waren dann auch enttäuschend, kaum einer konnte an seine Bestzeiten heran laufen.
Allerdings mit einer Ausnahme.
Ja, Helga Haase hat uns alle rausgerissen. Eine Medaille hatte man ihr durchaus zugetraut, aber Gold und Silber gegen die sowjetische Übermacht, das war schon sensationell. Wahrscheinlich hatte sich bei Ihr eine „Jetzt erst recht“ Einstellung aufgebaut. Insgesamt war die Stimmung im Team hervorragend, wir haben gegenseitig die Aufgaben der Trainer übernommen. Ich selbst war aber sehr unzufrieden mit mir, besonders die 5000 Meter waren schwach.
Welche Erinnerungen haben Sie noch an Squaw Valley?
Das Treffen mit Sportlern anderer Disziplinen war natürlich toll. Ich bin einige Male mit Helmut Recknagel (Goldmedaille im Skispringen) und einigen Anderen losgezogen. Da wir uns nicht immer an die Vorschriften der Funktionäre gehalten haben, gab es für mich einigen Ärger. Helmut Recknagel hatte nach seiner Goldmedaille dagegen keine Probleme. Wir waren auch in Reno, wo wir auch mal ein Casino ausprobiert haben. Das war allerdings offiziell, denn die Stadt Reno hatte alle Olympiateilnehmer zum Essen eingeladen.
Danach begann für das Eisschnelllaufen in der DDR eine neue Zeitrechnung, wie haben Sie das erlebt?
Helga Haase war in der DDR plötzlich eine Berühmtheit. Das Eisschnelllaufen stand nun im Fokus der Öffentlichkeit. In Berlin wurde mit dem Bau der ersten Kunsteisbahn begonnen, was zur Folge hatte, dass ab 1963 alle Spitzenläufer in Berlin angesiedelt wurden. Bei den Olympischen Spielen 1964 lief mit Erika Heinicke eine Läuferin aus Crimmitschau, nun aber bereits für den TSC Berlin startend. Crimmitschau war nunmehr also nur noch eine Talentschmiede für die großen Clubs. Nach und nach entstanden an verschiedenen Standorten weitere kleine Vereine, Rostock machte dabei bereits 1959 den Anfang.
Ich selbst erkrankte 1961 schwer und musste mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen. Bei meinem Comeback im Folgejahr konnte ich mit der jüngeren Konkurrenz nicht mehr mithalten. So endete meine Karriere bereits 1962. Mir wurde nahe gelegt eine Trainerausbildung zu beginnen. Seit 1964 war ich als Übungsleiter in Crimmitschau tätig, nach dem Ende meines Trainerstudiums hörte ich bei der Wismut auf und wurde von 1968-1973 als Stellvertretender Bezirkstrainer in Karl-Marx-Stadt eingesetzt. Von 1974 bis 1990 arbeitete ich als hauptverantwortlicher Trainer in Crimmitschau. Auch nach 1990 arbeitete ich als Trainer in Crimmitschau. Mittlerweile bin ich aus gesundheitlichen Gründen mehr im organisatorischen Bereich aktiv.
Olympiasieger Knut Johannesen verbesserte in Squaw Valley den 10.000 Meter Weltrekord um 46 Sekunden auf 15.46,6. Welche Vorstellungen hatten Sie damals, wie schnell man eines Tages laufen kann?
Die Zeit von Johannesen war für damalige Verhältnisse natürlich sensationell. Aber wir wussten ja auch aus der Leichtathletik, dass jede Fabelzeit irgendwann wieder unterboten wird. (Redaktion: der Rekord von Johannesen wurde bereits 1963 deutlich verbessert) Eine Vorstellung hatte ich nicht, wer konnte sich damals schon ausmalen, dass eines Tages in Hallen gelaufen wird, dass es Klappschlittschuhe oder luftschnittige Anzüge gibt. Mir war klar, dass man mit besserer Trainingsmethodik, vielleicht etwas besseren Material immer schneller laufen kann, aber wohin die Zeiten gehen werden, nein dass war nicht absehbar.
Zu meiner Wettkampfzeit mussten viele Wettkämpfe trotz stundenlanger Plagerei abgesagt werden, wir hatten kein Kunsteis, waren den witterungsbedingten Einflüssen gnadenlos ausgeliefert. Um damals eine gute Zeit zu laufen, mussten viele Dinge zusammenkommen.
Sie haben fast ihr ganzes Leben am und auf dem Eis zugebracht, welche Auswirkungen hatte das auf die Familie?
Das ist richtig, meine Frau Lore hatte es auch nicht immer leicht mit mir. Mein Sohn Jürgen trat sozusagen in meine Fußstapfen. Er lief bis 1978 beim Sportclub in Karl-Marx-Stadt. Auch mein Enkelsohn Sven war Teilnehmer an Juniorenmeisterschaften. Noch weiter reicht allerdings die Erfolgsgeschichte der Familie von Manfred Hösel. Seine Enkelsöhne nahmen an Juniorenweltmeisterschaften teil, wobei der Jüngere (Eric Rauschenbach) 2007 sogar den Titel über 1500 Meter gewann und aktuell zur Nationalmannschaft gehört.
Vielen Dank für das Gespräch.