Kampfansage eines Ausgemusterten
(Erfurt) Eigentlich hatte der Erfurter Eisschnellläufer Jörg Dallmann immer vor, selbst zu entscheiden, wann Schluss ist. Und mit der verkorksten Olympiasaison wollte er eigentlich nicht abtreten.
Doch dann kam der Sprint-Weltcup Anfang März in Erfurt. Vorher wurde den Startern, auch ihm, noch eingeschärft, um das bestmögliche Ergebnis zu laufen – wegen der Startplätze in der nächsten Saison. Doch dann bekam er die Nachricht: Er ist für den nationalen Verband DESG nicht mehr förderwürdig, muss seinen Platz in der Bundeswehr-Sportfördergruppe abgeben. „Richtig gesagt hat es mir von den Funktionären niemand, bis heute nicht, Trainer Bart Schouten hatte es auch nur auf einen Din-A-4-Zettel bekommen.“
Ein Schlag für „Hugo“, wie der heute 30-Jährige Erfurter in der Szene nur genannt wird. „Ich wollte nie gesagt bekommen: Hugo, du bist raus, wir unterstützen dich nicht mehr. In all den Jahren habe ich immer nicht nur das Ziel verfolgt, so gut und so schnell wie nur möglich zu laufen, sondern hatte auch den Wunsch, selber festzulegen, wann es soweit ist, aufzuhören.“
Den mehr oder weniger offensichtlichen „Rauswurf“ zu verdauen, brauchte er ziemlich lange. „Spaß am Sport hatte ich eigentlich noch, da fasste ich den Entschluss, mal was anderes zu probieren. Einfach mal andere Sportarten auszuprobieren. Es interessiert mich nicht nur technisch, sondern auch psychologisch – verschiedene Sportarten haben ja ganz verschiedene Anforderungen.“ Und so begann er seinen Sommer als „Multi-Sport-Monate“ zu planen. Zu einigem war er auch schon gekommen: Fechten und Schwimmen („Aber noch nicht so gründlich, wie ich es eigentlich will“), Gehen und Radsport.
Und dieser Tage war er in Oberhof zum Skispringen. „Dass man Mut braucht, kann man sich an allen fünf Fingern abzählen“, sagt Dallmann, „aber was da für Kräfte wirken auf der Schanze, die man beherrschen musst, das ahnen die meisten nicht.“ Der Erfurter nahm einen Crashkurs bei Stephan Hocke, Jörg Ritzerfeld und Tino Edelmann, trainierte einige Zeit mit ihnen mit, ehe er sich auf die Pionierschanze, einen 15-m-Bakken, traute. „Sechs, sieben Meter, weiter werd ich nicht gesprungen sein“, meint er „aber es war klasse. Ich will unbedingt als nächstes von der 25-m-Schanze springen.`“
Eigentlich hatte er noch mehr vor, diesen Sommer, doch dann kam der Anruf seines Dienstherren Bundeswehr. „Als Sportsoldat besteht dein Dienst ja im Leistungssport, aber jeden Sommer steht militärische Ausbildung an. Jedenfalls wenn man weiterdient“, sagt Jörg Dallmann, „dass ich ausscheide, davon wussten die in meiner Dienststelle nicht. Vielleicht ein Formfehler der DESG. Jedenfalls wurde ich zur Ausbildung befohlen. Und ausgebildet zu werden, bedeutet automatisch weiterdienen.“
Zumindest bis 1. April ist „Hugo“ nun weiter in der Bundeswehr. Und damit auch Leistungssportler. „Ich nehme die Herausforderung eines weiteren Jahrs als Eisschnellläufer an. Ich will das Bestmöglich schaffen, und die WM 2011 in Inzell ist ein ganz reizvolles Ziel. Aber ich will mein letztes Jahr im Leistungssport auch mit Spaß am Sport absolvieren.“
Seit zwölf Jahren ist er international „im Geschäft“. Die Junioren-WM 98 in den USA waren sein erster internationaler Auftritt, ein Jahr später wurde er in Norwegen JWM-Mehrkampf-Fünfter und belegte auf dem „langen Kanten“ (5000 m) Platz zwei – übrigens vor dem Holländer Mark Tuitert, der 2010 in Vancouver 1500-m-Olympiagold gewann und derzeit auch auf Erfurter Sommer-Eis trainiert.
„Seitdem habe ich viele jüngere Eisschnellläufer kommen und gehen gesehen. Dass mich in all den Jahren niemand von ihnen verdrängt hat, ist das eigentliche Problem des deutschen Eisschnelllaufs. Ich glaube, das System braucht eine gründliche Reform“, meint Dallmann, „zu viele junge Sportler hören auf, bevor man überhaupt weiß, ob sie ihre Stärken vielleicht erst jenseits der 20 Jahre ausspielen, wie das bei Daniela Anschütz oder Jenny Wolf der Fall war.“
Als Dallmann am Montag zum ersten Sommer-Eistraining in der Niemannhalle antrat, erwartetet ihn die nächste Überraschung: „Ich war in den Sprintkader von Trainer Thomas Schubert anstatt zu den Mehrkämpfern bei Trainer Stephan Gneupel eingeteilt. Seit meiner Juniorenzeit bin ich Mehrkämpfer. Und dass ich letztes Jahr bei der Sprint-WM gestartet bin, lag nicht an meinen Sprint-Qualitäten, sondern daran, dass keine besseren Sprinter da waren.“
Dallmann, der 2008 mit Mannschafts-WM-Bronze seinen größten Erfolg feierte, will sich auch in seinem letzten Jahr als Mittelstreckler betätigen. „Ich werde alles tun, um mich auch in die Weltcupmannschaft zu laufen. Da sollen die Jungen erst mal an mir vorbeikommen.“
Seine weiteren sportlichen Seitensprung-Ambitionen sind nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Einen hat er aber jetzt noch auf dem Terminplan. „Radsport gehört sowieso zu unserem Trainingsplan“, sagt Dallmann, „am 4. September gehe ich zum Radkriterium in Elxleben an den Start.“
Erstveröffentlicht in der Thüringer Allgemeinen (Ausgabe Erfurt) vom 15. Juli 2010. Veröffentlichung auf speedskatingnews.info mit freundlicher Genehmigung des Autors.