Einzelstrecken-WM 2007, WM-Tagebuch 1/5
Deutsche Sorgen und Hoffnungen am Tag vor dem scharfen Start WM-Tagebuch, Teil 1 von 5
Mittwoch (7. März 2007)
Von Matthias Opatz
Im Unterschied zum Berichterstatter, der am Mittwochabend nach 20stündiger Reise in Salt Lake City ziemlich platt ankam und den Jetlag noch vor sich hatte, hatten die Athleten Anreisestrapazen und Zeitumstellung schon rechtzeitig vor dem Weltcupfinale “verdaut” – die 1200 km von Calgary nach Salt Lake City waren gegen Thüringen – Utah (via Frankfurt, Cincinatti) ein “Katzensprung”. Problemlos ging er für einige dennoch nicht vonstatten. Während die Läufer einiger Nationen einen Tag auf ihr Gepäck warten mussten, weil die (wegen der Eisschnelllauf-Ereignisse ausgebuchten) kleinen Flugzeuge nicht alles wegbekamen und ein Teil später nachgeschickt wurde, betraf das vom deutschen Team nur einen – und das aus einem anderen Grund. Anton Hahn, der einen anderen Flug gebucht hatte als der Rest der DESG-Truppe, flog quasi als blinder Passagier von Kanada in die Staaten. Der Erfurter hatte zwar ein Ticket und war ordnungsgemäβ zugestiegen, aber aus irgendeinem Grund wurde sein Ticket nicht gescannt – und er war damit für de Computer nicht an Bord. Er wurde auf dem Flughafen Calgary ausgerufen und mit Hilfe der DESG-Mannschaft gesucht – aber nicht gefunden. “Wie auch, ich saβ ja im Flugzeug und wartete auf den Abflug”, erzählt Hahn, “inzwischen wurde sogar mein Gepäck wieder aus dem Flugzeug geholt. Das bekam ich aber dann einen halben Tag später.”
Das “Utah Olympic Oval” in Kearns ist eine halbe Bus-Stunde vom Athletenhotel im Zentrum von Salt Lake City entfernt. Kearns hat 34’000 Einwohner und ist ein Vorort von Salt Lake City, der Hauptstadt von Utah, wo 180’000 Leute wohnen. Das ist für amerikanische Verhältnisse nicht viel. Aber dank des typischerweise wolkenlosen Himmels beim Anflug konnte man von dem überzeugen, was die Taxifahrerin später “eine riesige Kleinstadt” nennen sollte: Bis auf ein paar Hochhäuser in dem, was die Einwohner etwas irreführend “Downtown” nennen, gibt es praktisch nur eingeschossige (selten zweigeschossige) Siedlungshäuser auf quadratischen Parzelen, die sich auf eine riesige Fläche erstrecken. “Wenn man nach Boston fliegt, sieht man das genaue Gegenteil”, sagt die Taxifahrerin, “eine winzige Millionenstadt”. Der namensgebende See, der Groβe Salzsee, ist alles andere als eine Touristenattraktion, sondern ein flacher, groβflächiger, von salzigen Mooren umgebener See mit wenig Leben. Seine Fläche schwankt je nach Heftigkeit von Dürre und Regen zwischen 1500 km (Tiefststand 1963) und 5300 km (Höchststand 1987). Beeindruckens sind hingegen die Ketten der Rocky Mountains, welche die Stadt von drei Seiten umgeben und wo einige beliebte Wintersportorte liegen. 2002 fanden hier die Olympischen Winterspiele statt. Für Interessenten: Mehr über Salt Lake City
Beide Städte sind relativ jung, sie wurden vor 160 Jahren von aus dem Nordosten kommenden Siedlertrecks gegründet; Salt Lake City 1847, Kearns 1848. Das waren Mormonen, also Anhänger der “Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage”, einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die damals an der Ostküste verfemt war und deren Anhänger diskriminiert wurden. Bis heute spielt diese Kirche im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle, sie hat in Salt Lake City ihren Haupttempel und die Kirchenverwaltung. Die Mormonen erwarten die Wiederkehr Christi und bereiten sich durch besondere Sittenstrenge darauf vor (u. a. Keuschheit vor der Ehe, unlösbare Familienbande sowie Enthaltsamkeit von Alkohol, Tabak und sogar Kaffee). Zwar prägen die Mormonen nach wie vor maβgeblich das öffentliche Leben (z. B. Kulturveranstaltungen), aber anders als noch vor 10 Jahren findet man heute in Salt Lake City mühelos Gaststätten mit Akoholausschank.
Für Interessenten: Mehr über die Mormonen
Doch von diesem heimatkundlichen Ausflug zurück zum Eisschnelllauf: Beim Vormittagstraning war mit drei Ausnahmen die gesamte deutsche Mannschaft auf dem Eis. Während Daniela Anschütz-Thoms und Claudia Pechstein “planmäβig” fehlten (eistrainingsfrei), musste Samuel Schwarz unfreiwillig im Hotel bleiben. “Beim Umzug von Calgary hat es mich ziemlich umgehauen, keine Ahnung, wo ich mir das eingefangen habe”, meinte der Berlin, “ich hatte jedenfalls ordentlich Fieber und fühlte mich elend. Als das am Dienstagmorgen weg war, dachte ich, das war’s vielleicht schon, aber von Dienstag zu Mittwoch hatte ich eine ganz unruhige Nacht und heute früh wieder über 38 Grad. Die 1000 m kann ich wohl abhaken, aber die Hoffnung auf wenigstens einen Start hab ich noch. Wäre wirklich schade, so eine gute Saison so sang- und klanglos zu beenden.”
Auch Mannschafts-Olympiasiegerin Lucille Opitz hatte sich einen kleinen Schnupfen eingefangen, aber am Mittwoch ging es ihr schon wieder besser, und nach dem Training war sie wieder optimistisch. Das ging auch Doppel-Weltcupsiegerin Jenny Wolf so. “Ich habe immer ganz besondere Probleme mit der Zeitumstellung und mit der Gewöhnung an schnelles Eis, deswegen hatte ich auch den Testwettkampf vor dem Weltcupfinale in Calgary weggelassen. Wenn der in die Hose gegangen wäre, wäre das kein gutes Zeichen gewesen, also lieber nur trainieren”, meinte de deutsche 500-m-Hoffnung, “und beim Weltcupfinale sah es doch schon ganz gut aus. Ich wollte eigentlich nur die Cups sichern. Und nach Calgary ist Wang Beixing aus China die Favoritin. Auch die Koreanerin Lee wird sich zurückmelden wollen, sie war überhaupt nicht mit ihren Läufen von Calgary zufrieden. Ich kämpfe aber auf jeden Fall um eine Medaille.” Auch Frauen-Bundestrainer Markus Eicher ist zuversichtlich: “Wenn Jenny ihre Leistung abrufen kann, kann sie auf jeden Fall eine Medaille holen.”
Gute Laune und Kampfbereitschaft versprühten auch Robert Lehmann und Stefan Heythausen. Auch Marco Weber war guter Dinge: “Wenn ich mein Ergebnis von Calgary (Platz 12) wiederholen könnte, wäre das eine feine Sache, vielleicht sogar noch ein, zwei Plätze besser”, sagte der Chemnitzer, “dabei ist mir ganz egal, gegen wen ich laufen muss. Ich laufe mein Rennen und hoffentlich gut.” Seine letzte Trainingseinheit vor den 5000 Metern am Donnerstag absolierte Weber im Hotelflur, auf dem Standrad. “Zum Glück bin ich von de Erkrankungen, die hier rumgehen, bislan verschnt geblieben”, meinte er, “Ansteckungen haben es aber auch hier leichter als sonst. Wir hocken hier alle auf einen Haufen, während der Körper mit der trockenen Luft zu tun hat und bei dem einen oder anderennicht so abwehrstark ist. Und dass man im Hotel kein Fenster zum Lüften öffnen kann, ist auch nicht gerade förderlich.”
Nach dem Mittwochtraining im “Oval” hat Anni Friesinger ihren Startverzicht über die 1500 Meter am Donnerstag entschieden. Die Sprintweltmeisterin und beste 1500-m-Läufern der Saison hatte ausgerechnet beim Weltcupfinale in Calgary ein fiebriger Infekt erwischt, wegen dem sie den Gesamt-Weltcupsieg verpasste und der nun auch ihre WM-Planungen durcheinanderbringt. “Es ist immer bitter, wenn man gut drauf ist und man zum falschen Zeitpunkt krank wird”, sagte ihr Trainer Gianni Romme, “aber ändern kann man es nicht, da muss man als Profi damit umgehen können. In dieser Situation, in der Anni einfach noch nicht wieder fit genug ist, ist der Verzicht die einzig richtige Entscheidung.” Die Inzellerin bereitet sich nun auf ihren geplanten Start über 1000 Meter am Sonntag vor.
Friesinger ist nicht der einzige Rückzug, auch Sportler anderer Länder verzichten tels aus Krankheits-, teils auch taktischen Gründen auf ihren Start. So haben auch Martina Sablikova (Tschechien), Jekaterina Lobyschewa, Jekaterina Abramowa (beide Russland) und Maren Haugli (Norwegen) abgemeldet. Weiter dezimiert wird 1500-m-Starterfeld durch die DESG, die mit Lucille Opitz nur mit einer statt der zustehenden drei Starterinnen dabei ist. Claudia Pechstein und Daniela Anschütz-Thoms sind allerdings nicht krank, sondern wollen und sollen Kräfte sparen. “Es kommt ja am Ende nicht darauf an, mit so vielen Startern wie möglich dabeigewesen zu sein, sondern mit dem bestmöglichen Erfolg”, sagt DESG-Teamleiter Helge Jasch, “Daniela und Claudia könnten auf vier Distanzen an den Start gehen, aber das ist einfach nicht sinnvoll. Sie sollen sich auf diejenigen Strecken konzentrieren, wo sie die besten Erfolgsaussichten haben.” Über 5000 m der Männer ist die DESG hingegen mit dem vollen Kontingent am Start. Neben Marco Weber starten Robert Lehmann und Tobias Schneider.
Die Auslosung: Über 1500 m der Damen läuft Lucille Opitz im vierten Paar gegen Hiromi Otsu (JPN). Über 5000 m der Herren trifft im vierten Paar Robert Lehmann auf Matteo Anesi (ITA), im achten Paar Marco Weber auf Johan Rojler (SWE) sowie im zehnten Paar Tobias Schneider auf Arne Dankers (CAN). Anekdote am Rande: Nach der Auslosung gefragt, holte DESG-Teamchef Helge Jasch siegessicher eine mitgebrachte Kopien aus der Tasche und wollte gerade die Paarungen vortragen, da fing er plötzlich an zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. Männer-Bundestrainer Bart Schouten stimmte nach einem ungläubigen Bick auf das Blatt gleich ein. Wer sich mit amüsieren will, sollte einfach mal oder auf das Bild klicken. Was war passiert? Die Organisatoren hatten versehentlich die nur zu Testzwecken angelegte Musterliste kopiert und ausgegeben, die eigentlich gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war – und die war zuvor sogar vom Schiedsrichter unterschrieben worden. Den Rumänen Dezideriu Horvath beneidet sicherlich keiner um sein 60-km-Pensum! ;o)